Interview

mit Frank Wallburger (Regie)

   

Was dürfen die Filmzuschauer*innen von 50 Uhr erwarten?
Das kommt ganz darauf an, welche Rolle man vor der Leinwand einnimmt und ob man private oder berufliche Erfahrungen mit Menschen, die bipolar gestört sind, sammeln konnte. Zuvor wird es sicherlich die Frage geben, ob man überhaupt 50 Uhr sehen oder wie lange man im Kino sitzenbleiben möchte. Prinzipiell wird es das Kinoerlebnis, so wie wir es für gewöhnlich kennen, nicht geben.

Kannst Du das etwas näher erläutern?
Nach unserem ersten achtstündigen Treffen stand ich völlig im Regen. Matthias war damals hypomanisch und redete ohne Unterlass querbeet durch alle seine Lebenslagen, Wahnvorstellungen, Visionen, neuen Vorhaben und vor allem über Menschen, die er in seiner Biografie kennenlernen durfte. Er sprach vom Tod, von übernatürlichen Kräften, über Geschichte und die Altvorderen und natürlich über die Zeit als Stasi-Abwickler, von seiner Mutter. Alles war surreal, aber sehr intelligent und sympathisch vorgetragen.

Jeder Satz war ein neues Thema. Seinen Gedankensprüngen konnte ich nicht folgen. Er war lustig, aggressiv, verbittert, traurig, wissbegierig, eitel, hilflos, allwissend (…), wohlgemerkt alles innerhalb von wenigen Minuten wechselnd. Ich war platt nach dem Treffen, ausgelaugt und verspürte keine Energie mehr im Körper. In den vier Jahren unseres gemeinsamen Weges hatte ich oft solche inneren Gefühlszustände. Irgendwann kam dann die Frage auf: Was passiert da in seinem Kopf?

War das der Auslöser in Dir, diese surreal-authentische Filmdokumentation über sein verrücktes Leben zwischen Manie und Depression und das auch noch im Kinoformat zu machen?
Nein, die Entscheidung kam viel später und die Zielstellung des Films ist heute auch eine andere als ursprünglich geplant. Am Anfang war es eher Neugier, den Menschen Kornetzky mit all seinen Facetten und Tagesschwankungen kennenzulernen und diese Erlebnisse mit der Kamera festzuhalten. Meinen Kamerarucksack hatte ich immer mit dabei. Häufig packte ich aber die Technik nicht aus, obwohl Matthias dies immer wollte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich heute abgedrehtes Filmmaterial von hunderten Tagen Länge. Meist hörte ich aber einfach nur zu und verfolgte seine Mimik und Gestik.

Parallel zu den Treffen mit Matthias beschäftigte ich mich natürlich mit der Bipolaren Störung, der Filmerei und seiner Biografie. Ich sprach mit vielen Fachleuten, Menschen aus seinem Umfeld sowie anderen bipolar Betroffenen, den Angehörigen. Danach wurde der Kameraeinsatz viel gezielter und bewusster. Ich suchte spezielle Bilder von Momenten, die mein damals gewonnenes Wissen über diese Themen untermauerten. Alles war also mehr oder weniger ein großes Experiment.

50 Uhr in der finalen Version tauchte erst vor meinen Augen auf, nachdem ich die Filmmusik im Fokus hatte, Musik, die die produzierten Bilder verstärken oder zu diesen im Widerspruch stehen sollten. Ich bin sehr dankbar, die Musik und die Musiker gefunden zu haben.

Insgesamt bin ich mit dem Film im Reinen. Matthias kannte ca. 70 Prozent der Szenen. Wir haben viel darüber gesprochen. Anhand seiner Reaktionen konnte ich ablesen, ob ich richtig lag oder die geschnittenen Sachen in den Mülleimer gehörten. Ich glaube, ihn hat es sehr geholfen, mit 50 Uhr sich selbst zu verstehen. Ob der Film auf eine große Kinoleinwand gehört, kann ich nicht beurteilen. Das bewerten andere.

Hört sich wie eine Ausrede an, falls 50 Uhr an der Kasse floppen sollte?
Mag sein, aber für Matthias und mich war das nie Thema. Mit Hilfe der Kamera erwuchs eine tiefe Freundschaft zwischen uns und vor allem einander Akzeptanz und Wertschätzung. Es ist schon tragisch, dass er unseren Film nicht mehr sehen darf. Sicherlich hätten wir viel gelacht oder geweint über die Erlebnisse, die uns mit 50 Uhr verbinden. Auch hätte er mich wohl zerrissen und mit Zorn überhäuft bei der einen oder anderen Szenenabfolge.

Wie auch immer: Es war für mich die intensivste Zeit meines bisherigen Lebens als Gast in einer fremden Welt, im Kopf von Matthi. Seine Nachricht vom unheilbaren Krebs im Juli 2019 fühlte sich an, als würde ich geköpft werden. Ich wollte das Filmprojekt beenden. Matthias kämpfte mehrere Tage rund um die Uhr, dass ich meine Entscheidung rückgängig mache. Für ihn und alle rund 300 Mitstreiter im Projekt wurde 50 Uhr fertiggestellt. Ich hatte es versprochen, zwei Tage vor seinem Tod.

Was weißt Du über die Bipolare Störung heute?
Fachlich kann ich wenig beisteuern, ich bin ja kein Arzt oder Psychologe auf diesem Gebiet. Manisch-depressiv zu sein, ist wie Himmel und Hölle und du hast keinen Einfluss darauf, wann du wo bist. Für mich ist die Bipolare Störung eine gefährliche Gabe. Matthias hatte in seinen Hochzeiten Sachen gemacht, die Menschen wie du und ich niemals nur im Traum tun würden. Auf der anderen Seite war er hilflos wie ein kleines Kind.

Fakt ist: Bipolare fühlen sich allein gelassen und sind letztlich allein, egal in welchem Zustand sie sich gerade befinden. Daran gehen sie zugrunde, nehmen sich das Leben, oder verfallen alkoholisiert in Selbstmitleid. Medikamente können, wenn gut eingestellt, etwas mildernd wirken, nur ihr eigenes Ich haben sie dann verloren.

Matthias war ein außergewöhnlicher Mensch mit einer unglaublichen Lebensleistung. Für die Leute um ihn herum war er Magnet und Prellbock zugleich. Es war ein Kommen und Gehen. Wer kannte ihn wirklich?

Was waren Deine höchsten Hürden, die Du überwinden musstest?
Konkret waren es vor allem zwei Herausforderungen. An erster Stelle galt es für mich, Verhaltensweisen und Strategien im Umgang mit Matthias zu entwickeln. Wenn man so lange und intensiv die Nähe zur Bipolarität sucht, muss man höllisch aufpassen, dass man nicht vom Strudel in die Tiefe gezogen wird. Matthias suchte und forderte permanent meine Nähe. Es war nicht leicht, die Balance zwischen Abstand und Nähe zu finden, um meine Familie und mich zu schützen. Mehrmals stand unsere Freundschaft deshalb auf der Kippe.

Das zweite große Problem war die Filmerei selbst. Filme, egal welches Genre, werden für die Zuschauer*innen gemacht. Sie wollen abgeholt werden, lachen, weinen, Neues erfahren, in einer Filmrolle mitfiebern, Abenteuer erleben (...), kurzum: ein tolles Kinoerlebnis haben. Danach richtet sich alles im Drehbuch, bei der Dramaturgie, Besetzung der Darsteller, Kameraführung, Lichtsetzung, Filmmusik, Schnitt usw. für den Transport der Story auf die Leinwand.

Um möglichst authentisch die bipolare Erlebnis- und Gefühlswelt im Kopf von Matthias abzubilden, musste ich die Strategien und Techniken einer sonst üblichen Filmproduktion verlassen; die Bedürfnisse der Zuschauer*innen an einem guten Film ausblenden. Das war für mich äußerst zeitaufwendig und ein ständiges Ringen, um am Ende den Workflow bzw. den Schlüssel zu finden, 50 Uhr mit dem „Ok, ja so ist es“ seitens von Matthias zu produzieren. Ich kenne gut gemachte Dokumentar- und auch Spielfilme über und mit manisch-depressiven Menschen, zur Bipolaren Störung. Was alle gemein haben, sie liefern eine Draufsicht auf dieses Phänomen. Ich aber wollte die Innenansicht.

Szene am Höhleneingang

Mit dem heutigen Wissen würde ich dies und das anders machen. Würde Matthias noch leben, hätten wir bestimmt noch einige Jahre für den Film verbraucht. So aber kam das harte Ende. Eigentlich ist 50 Uhr unvollendet, wenn ich es genauer betrachte.

Wie kamen der Neue Sächsische Kunstverein und die Künstler*innen zum Film?
Wie schon angedeutet, konnte man in den ersten Monaten nicht von einer ernsthaften Filmproduktion sprechen. Alles glich eher einer Expedition hin zu einem gemeinsamen Kennenlernen. In meiner Anwesenheit begann Matthias in Telefonaten vom Filmemacher zu sprechen, der gerade bei ihm sei und einen Film über sein Leben machen wolle. Irgendwann im Sommer 2017 nahm ich diese Rolle an, hatte ich ja ohnehin schon eine Menge Zeit und auch Geld aufgebracht.

Man muss wissen, dass ich damals bereits der Vorstandsvorsitzende des Kunstvereins war. Ich wollte eine klare Trennung des Projektes mit Matthias und der Leitungsfunktion im Verein, schließlich läuft man sehr schnell in die Gefahr des Vorwurfes, seine Funktion für private Unternehmungen zu missbrauchen. Die Leute um mich herum sahen dies anders und so rutschte der Verein zusehends ins Projekt, anfänglich durch Kontaktanbahnungen; ab Januar 2019 wurde 50 Uhr Pilotprojekt im Verein.

Heute sind wir als Ko-Produzenten vereint und die Filmauswertung realisiert der Kunstverein federführend. Damit wird vor allem der gemeinnützige, nichtkommerzielle Charakter des Projektes fundamentiert. Beiderseitig war die Kooperation sehr nützlich und Basis neuer künstlerischer Ideen.

Die Künstler*innen brachten wichtige Impulse in den Film ein. Es entstanden zum Teil eine völlig neue Bildsprache und Dramaturgie. Persönlich fand ich dadurch einen Zugang zu künstlerischen Sparten, für die ich vorher wenig Aufmerksamkeit entgegenbrachte, wie Kunstinstallationen und Performance Art.

Liest man sich den Filmaufbau durch mit der langen Liste der Szenenabfolge, dann erkennt man vorab das Chaos, in welchem sich die Zuschauer*innen wohl kaum zurechtfinden werden können. Die oft wechselnden Darsteller*innen verwirren zusätzlich. Und welche Bedeutung nehmen die Hauptrollen dabei ein?
Jede Szene bildet in sich eine Geschichte ab. Zwar etwas geordnet und beschönigt, liefert 50 Uhr genau diese Bilder und Töne, wie ich sie in den Begegnungen mit Matthias gesehen und gehört habe. Die Zuschauer*innen müssen ständig zwischen meinem und Matthias seinem Kopf hin- und herspringen. Sie erleben und spüren somit hautnah den zentralen Konflikt der Bipolaren Störung, nämlich die Diskrepanz zwischen der von der Gesellschaft eingeforderten Ordnung und der surrealen, unberechenbaren Aktionen und Interaktionen der Personen mit dieser affektiven Störung.

Der Clown als tragische Figur spielt in Matthias seinen Aufzeichnungen und Bildern eine zentrale Rolle. Darin sah er sich selbst. Die Geschichtenerzählerin verkörpert die innere Stimme in ihm, anklagend, fragend, zurechtweisend, liebevoll und mütterlich. Den Musiker Francis String kannte Matthias schon länger, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Damals war Francis in einer tiefen Schaffenskrise.

Im Sommer 2018 kreisten in der Nähe meines Zuhauses Hubschrauber. Tags darauf erfuhr ich aus der Zeitung, dass ein junger Mann vermisst und tot aufgefunden wurde. Es war Suizid eines jungen, manisch-depressiven Musikers. Matthias kannte Florens T. Sie hätten einige Tage vor dessem Tod noch zusammengesessen und über große Projekte fantasiert. Ich ging auf Suche und fand Personen aus dem Umfeld von Florens. Francis mit seinen drei Musiktiteln („Nie zurück“, „Geräusche“ und „bipolarism“) in der Rolle als Florens und Wegbegleiter des jungen Musikers stellen im Film diese Tragödie nach.

Matthias sprach viel von seiner Mutter, die er unendlich liebte und nach ihrem Tod im Jahre 2007 schmerzhaft vermisste. Es war eine schwierige Beziehung der beiden zwischen starken Muskelschmerzen und ruhigem Herzschlag, sinnbildlich gesprochen.

Ich selbst passte in meinem familiären Stammbaum nicht so recht hinein. Meinen Vater hatte ich verloren, ohne ihn wirklich zu kennen, umgekehrt sicherlich auch. So entstand die Idee, dass sich seine Mutter und mein Vater im Film begegnen und über ihre Söhne plaudern. Mehr als ein Jahr saß ich an den lyrischen Texten der Mutter-Vater-Szenen. Gibt es einen Schuldigen? Die Eltern standen und stehen permanent unter Generalverdacht!

Wie politisch ist 50 Uhr?
An der Seite von Matthias Kornetzky gab es den politischen Diskurs gratis dazu, jederzeit und überall. Im Zusammenspiel mit seiner Hypomanie und Schizophrenie waren seine politischen Ausschläge extremst in alle Richtungen.

Schon als Kind machte er sich damit keine Freunde, wie im Zeugnis der zweiten Klasse nachzulesen ist. Zwar bescheinigte man ihm für sein Alter ein außergewöhnliches Interesse an Politik, jedoch legte er sich auffällig oft mit allen an, Mitschüler, Lehrer; später konnte sich kein Medienvertreter, Staatsbeamter, Kommunal-, Landes- oder Bundespolitiker (w,m,d), egal aus welchem Lager, sicher sein, wann und an welchem Korken Matthias als nächstes zog.

Er war ein unberechenbarer Humanist. Sein Herz schlug links, seine Ohren hörten auch rechts zu. Ärger gab es von allen Seiten des politischen Spektrums. Im Umgang mit den Diensten, wie er die Geheimdienste nannte, war das ähnlich. So bekamen seine Wahn- und Angstzustände ständig neue Nahrung.

Ich hatte nicht die Zeit und wohl auch kein Bedürfnis, alle seine Aussagen zu überprüfen und mit ihm im Kleinklein durchzukauen. Im Film wird seine politische Zwietracht nur angedeutet. Er wollte unbedingt einen politischen Film. Am Ende habe ich ziemlich gemogelt, damit 50 Uhr nicht selbst zur Zielscheibe von politische Auseinandersetzungen wird. Sozusagen liegt hier ein ausgleichender Filter auf dem Film. Ich weiß, er würde diesbezüglich 50 Uhr nicht akzeptieren; diese Lücken seines politischen Lebens im Film bei jeder Gelegenheit anmarkern.

Lass uns noch einmal zur ersten Frage zurückkommen. 50 Uhr, eine dreistündige Irrfahrt durch eine bipolare Welt: Will man das wirklich aushalten wollen?
Ja, dass es nur drei Stunden geworden sind, war ein Kompromiss an die Zuschauer*innen. Im realen Leben der Bipolaren Störung gibt es keinen Off-Schalter für die Betroffenen. Dennoch, vor 50 Uhr braucht man keine Angst haben. Die Filmwirtschaft produzierte schon ganz andere Sachen.

Allerdings sollte man sich mit ein wenig Demut dem Film annähern, vor allem von Leuten, die psychisch instabil sind. Vielleicht können die drei Stunden auch etwas helfen im Verständnis und Umgang mit Menschen, die nicht zur gesellschaftlichen Norm zählen.

… Dein Schlusswort?
Danke! Danke, lieber Matthias für die unvergessliche Zeit. Danke an alle Mitstreiter, vor und hinter der Kamera, die selbstlos die Entstehung von 50 Uhr unterstützt und verfolgt haben. Danke an meine Familie, Frau und Kinder. Das war ein Grenzgang mit allem, was dazugehört oder wie Film-Heilpraktikerin Gabriele Smole in den ersten Minuten von 50 Uhr sagt: „Das war purer Wahnsinn!“.

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